Drama Queen: Zwei Tage im Audi e-tron GT

Ich hatte mal einen italienischstämmigen Kollegen, der eine – anfangs sehr irritierende, später eher amüsierende – Strategie im Arbeitsleben verfolgte: Kam eine neue Aufgabe oder Anfrage zu ihm, so begann er unmittelbar, die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit der Bewältigung dieser Aufgabe in der gegebenen Zeit mit den gegebenen Mitteln zu beklagen. Er lehnte das Projekt nie endgültig ab. Aber er stellte die Erledigung als praktisch unmöglich dar. Bestand man trotzdem darauf, dass er sie übernehme, dann erlebte man eine Überraschung: Er kam regelmäßig nach kurzer Zeit mit einem guten Ergebnis zurück, oft mit kreativen, immer mit praktikablen Lösungen.

Was gewann er durch diese Vorgehensweise, und was wollte er damit erreichen? Offensichtlich ging es ihm um eine Aufwertung der eigenen Leistung: „Es war fast unmöglich, aber ich habe es trotzdem schnell und gut bewältigt.“ Gleichzeitig machte er sich durch diese Strategie den Rücken frei: Er konnte es vermeiden, während der Arbeit an einem Projekt unter zusätzlichen Druck gesetzt zu werden, denn die Erwartungen hinsichtlich der Zielerreichung waren ja regelmäßig niedriger als seine tatsächliche Leistungsfähigkeit. Diese ganze Methode funktioniert übrigens auch dann noch, wenn man sie durchschaut, das kann ich aus eigener Erfahrung versichern. Was aber hat das mit dem Audi e-tron GT zu tun? Wir werden sehen, vielleicht ahnt der Leser, die Leserin schon was.

Zunächst steht der GT als Bolide in den Proportionen eines klassischen Sportcoupés vor einem, flach und breit, mit ausgestellten Radhäusern, die ihm den Audi-typischen Coke-Bottle-Look geben (wenn man von oben draufschaut). Insgesamt ist er viel detailreicher, komplexer und aggressiver als Markenbruder Taycan, bei dem man gestalterisch mehr auf kraftvolle Sophistication gesetzt hat. Mir ist beim Audi das Heck optisch viel zu schwer, die Heckleuchten sind deutlich zu groß. Man hat damit wohl versucht, die Heckansicht weniger flächig und hoch wirken zu lassen. Trotz eleganter Modellierung halte ich auch deshalb den e-tron GT für kein besonders hübsches Auto. Aber hier geht es wohl nicht um Schönheit, hier geht es darum, zu beeindrucken.

Beeindruckt ist man dann auch, wenn man die schwere Tür öffnet und auf den Sportsitzen Platz nimmt. Eine hohe und stark strukturierte Schalttafel bildet ein ungewohntes optisches Gewicht vor Fahrerin und Beifahrer, unter und neben dem nicht sehr gelungen in eine Klavierlackfläche integrierten 10,1” Touchscreen gibt es eine Fülle von mechanischen Schaltern und Knöpfen, die durch alufarbige Dekorelemente zusätzlich visuelle Komplexität bekommen. Türverkleidungen und Schalttafel bilden zusammen einen extremen, aber durch harte Knicke unterbrochenen Wrap-Around-Effekt. Eine doppelte Ziernaht, über deren Echtheit ich mir nicht ganz im Klaren bin, betont diese Linie, durch welche die Insassen U-förmig umfasst werden. Das Ambientelicht unterstützt diesen Effekt nicht noch einmal, sondern betont die Tiefe und Plastizität der Schalttafel. Direkt im Blickfeld des Beifahrers prangt ein großes und deutlich zu hell hinterleuchtetes ‚e-tron‘-Emblem. Der Innenraum ist eng, vor allem in Relation zur Größe des Fahrzeuges, die Fenster schmal, die Gürtellinie hoch. Es entsteht das nicht zwingend angenehme Gefühl, in einer Techno-Höhle eingebaut zu sein.


Wie im Konzern üblich, muss auch dieses Elektroauto ‚angelassen‘ werden, indem man den Start-Stopp-Knopf drückt. Was danach passiert ist zunächst mal intuitiv plausibel. Man fährt ein schweres, potentes Fahrzeug, das sportlich abgestimmt ist und dessen Leistungsgrenzen nach dem Losfahren und im Stadtverkehr selbstverständlich noch nicht mal ins Blickfeld kommen. Wie bei Sportwagen oft üblich, ist das langsame Fahren nicht mühelos oder leicht, sondern man empfindet ständig ein ‚zu viel‘, das darauf wartet, in einem adäquaten Umfeld ‚losgelassen‘ zu werden. Allerdings fehlt, um diesen Eindruck zu vervollständigen, der ‚Biss‘ im Pedal. Der e-tron reagiert, zumal für ein Elektroauto, erstaunlich träge. Die Beschleunigung kommt, aber sie kommt mit Verzögerung, ganz wie man es von einem Verbrenner gewöhnt ist. Das führt dazu, dass sich das ohnehin steinschwere Auto noch ein bisschen schwerer anfühlt. Alle diese Unannehmlichkeiten wandeln sich auf der Autobahn zu Vorzügen. Der e-tron GT fährt schnell äußerst angenehm, seine Welt ist der Geschwindigkeitsbereich zwischen 150 und 220 km/h. Ein sehr souveränes, ultrastabil abgestimmtes Fahrwerk unterstützt den guten Eindruck. Dabei ist der Verbrauch nicht so hoch, wie ich erwartet hätte: Die Anzeige stand bei 26,5 kWh/100 km, mit (nicht voll genutzten) knapp 84 kWh Akkukapazität war dann in der Realität nach rund 260 km ein Ladestopp fällig. (Über den Ladekomfort schweigt des Sängers Höflichkeit, zumindest ging es am HPC-Lader mit anfangs über 250 kW schnell, 800 V-Technik sei dank.)

Nach dem Fühlen bzw. Erfahren kommt das Denken bzw. die Analyse. Warum, so habe ich mich gefragt, wirkt das Auto im Normalverkehr so angestrengt und anstrengend? Dieser Eindruck ist natürlich nicht auf technische Defizite zurückzuführen. Er ist vielmehr die Folge von Designentscheidungen, und hier meine ich vor allem die Gestaltung der Haptik und des Sounds. Denn der e-tron hat einen deutlich ‚gestalteten‘, künstlichen Sound, der absurderweise in praktisch allen Alltagssituationen über die echten Fahrgeräusche dominiert. Das beginnt mit einem tieffrequenten Brummen, das nach dem ‚Anlassen‘ ertönt, und nicht nur akustisch, sondern auch sensorisch als Vibration wahrnehmbar ist. Hier wird also allen Ernstes der Leerlauf eines Verbrenners simuliert, dezent genug, um bei den meisten unter der Schwelle bewusster Wahrnehmung zu bleiben, aber deutlich genug, um den echten Elektro-Spaß grundlegend zu versauen. Das geht beim Beschleunigen weiter, wo die Elektronik diverse Brumm- und Summgeräusche einspielt, die wohl den Eindruck eines besonders kraftvollen, massiven Antriebes vermitteln sollen. Bei negativer Beschleunigung wird dieser Klangteppich dann moduliert, so dass ein komplexer Vorgang suggeriert wird, bei dem erhebliche Energien im Spiel sind – angesichts der viel zu zurückhaltenden Rekuperation eher unpassend. Insgesamt ist das Sounddesign durchaus gut gemacht und weitgehend plausibel. Aber es konterkariert den mühe- und geräuschlosen Fahrspaß, den der E-Antrieb eigentlich bieten würde, vollständig. In dieselbe Richtung wirkt die Pedalkennlinie, die viel zu flach ist, außerdem habe ich keine Einstellung gefunden, in der ein echtes One-Pedal-Driving möglich gewesen wäre. Der Zugang zur eigentlichen Leistungsfähigkeit (4,1 Sekunden von 0 auf 100 km/h, Vmax 245 km/h) wird durch alle diese Maßnahmen künstlich erschwert und dramatisiert. Ja, der Audi e-tron GT verbirgt seine eigentliche Souveränität und Leistungsfähigkeit hinter einer Kulisse aus künstlichem Drama, die ahnungslose Umsteiger beeindruckt, aber jeden, der mal ein echtes Elektroauto gefahren ist, enttäuschen und irritieren muss.


Es gibt noch einen anderen Aspekt einer solchen Abstimmung: Durch das Einspielen künstlicher Geräusche im Stillstand und im unteren Geschwindigkeitsbereich wird die Kurve der Fahrgeräusche und Fahrvibrationen flacher und das Fahrzeug wird deshalb bei hohen Geschwindigkeiten als leiser wahrgenommen als es objektiv ist. Die Grafik zeigt schematisch den Zuwachs an Geräuschen und Vibrationen in drei Fahrzeugen: Der Verbrenner hat hier im Stillstand durch den Leerlauf bereits ein gewisses Level, während der Tesla nahezu geräuschlos ist. Beim Tesla entsteht dadurch, und durch ein relativ hohes Niveau an Abroll- und Windgeräuschen bei höheren Geschwindigkeiten, eine in der Mitte sehr steile, S-förmige Kurve. Er wird deshalb beim Schnellerfahren als laut wahrgenommen, auch, wenn er möglicherweise nach objektiver Messung leiser ist als der verglichene Verbrenner. Der Audi e-tron GT hat als Oberklassefahrzeug generell eine bessere Dämmung und Dämpfung (und sehr geringe Windgeräusche!), er ist deshalb selbstverständlich insgesamt leiser. Aber zusätzlich wird im unteren Geschwindigkeitsbereich durch das Zuspielen synthetischer Geräusche die Kurve angehoben, so dass sie viel flacher wird. Und das verbessert den subjektiven Komforteindruck noch mal deutlich. Die Insassen empfinden hinsichtlich der Lautstärke kaum einen Unterschied zwischen dem Fahren in einer 30-Zone und dem schnellen Reisen auf der Autobahn, und das wird als hochwertig wahrgenommen.


Es ist offensichtlich, dass das Design, der Sound und die Haptik des Audi e-tron GT so abgestimmt wurden, dass einem Kunden, der von einem Verbrenner-Audi umsteigt, eine nur minimale Umgewöhnung abverlangt wird. Das betrifft auch das gesamte Bedienkonzept, das nach dem Motto ‚eine Funktion, ein Bedienelement‘ gestaltet ist, wobei diese Bedienelemente leider, wie oft üblich, überwiegend nach optischen und nicht nach ergonomischen Kriterien verteilt wurden. Der 10,1-Zoll Touchscreen mit spürbarer Reaktionszeit zeigt dann auch, dass hier der Griff ins Regal mit seit Jahren verbauten Zulieferkomponenten bevorzugt wurde, statt einer schlanken und leistungsfähigen Neuentwicklung.
All das wäre nicht unbedingt zu kritisieren, soweit es dem Kund:innenwunsch entspricht und der Kundinnenzufriedenheit dient. Was man als Tesla-Fahrer dabei allerdings als bedauerlich – oder auch als ärgerlich – empfinden kann, ist, dass durch diese Auslegung die eigentlichen Stärken des E-Antriebes, die unglaubliche Mühelosigkeit und Leichtigkeit des elektrischen Fahrens, verborgen bleiben. Das Auto kann etwas, absolut. Aber es macht ein völlig unnötiges Drama um das, was es kann. Dadurch bleibt dem Umsteiger, der wahrscheinlich von einem Verbrenner der Oberklasse kommt, der enorme Entwicklungsschritt verborgen, der durch den elektrischen Drivetrain fast automatisch vollzogen wird. Sie erlebt nicht, wie leicht und einfach es sein kann, ein elektrisches Fahrzeug zu bewegen, und wie entlastend es ist, wenn ein Produkt, das wir nutzen, sich in maximaler Zurückhaltung übt, während es ständig und diskret eine ebenso maximale Leistungsfähigkeit bereithält. Diese fast beiläufige Leichtigkeit, mit der z.B. schon mein Modell 3 SR+ dieselbe Reichweite, nur wenig schlechtere Beschleunigungswerte und mehr funktionale Nutzbarkeit als der GT zur Verfügung stellt, führt leider dazu, dass der klassische Autokäufer dieses Angebot vollkommen unterschätzt. Er erwartet das Drama und er braucht es wohl auch, um die Leistungsfähigkeit des Produktes richtig zu verstehen. Aber im Alltag ist Drama eher störend, wie wir alle wissen.


Man kann sich nur wünschen, dass im Laufe der Zeit immer mehr Menschen vor ihrer Entscheidung für ein neues Auto einmal ein „echtes“ – das heißt, nicht mit einer Kruste von verfälschenden Designmaßnahmen überzogenes – Elektroauto kennenlernen. Es gilt die unglaubliche Leichtigkeit des Fahrens zu erleben. Macht Probefahrten mit euren Freud:innen und Kolleg:innen, liebe Tesla-Owner! Und lasst sie auch mal ans Steuer.


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  • Editorial – Faszinierende E-Autos
  • Leserbriefe
  • S3XY CARS 2024
  • Tesla Welt – David Reich: News des Quartals
  • Die Herausgeber – Tesla Owners TOCH
  • Die Herausgeber – Tesla Fahrer und Freunde (TFF) e.V.
  • Tesla – Wie hat Tesla das alles gemacht?
  • Tesla – Der Unmögliche
  • Tesla – Wie viel Bremsleistung bei über 1000 PS?
  • Strombock – Happy Birthday Tesla Supercharger in Deutschland
  • Tesla – TOCH besucht die GIGA Berlin
  • Elektromobilität – Drama Queen – Zwei Tage im Audi e-Tron GT
  • Energiewende – Wachstum an der richtigen Stelle
  • Energiewende – Wärmepumpe mit Gaspedal – das geht
  • Car Maniac – Testberichte
  • Gesellschaft – Das Vierte-Kraft-Gesetz
  • Gesellschaft – Ein unverpackter Plastiküberblick
  • Reisebericht – Im Highland durchs Winterchaos
  • Fanboy
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3 Gedanken zu „Drama Queen: Zwei Tage im Audi e-tron GT

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