Wie realistisch sind die Reichweitenangaben der Hersteller? Nehmen wir mal ein Tesla Model 3 Long Range als Beispiel: zum gegenwärtigen Stand werden hier satte 602 km angegeben. Tesla selbst merkt an, dass „die tatsächliche Reichweite […] aufgrund von Faktoren wie Geschwindigkeit, Wetterbedingungen und Höhenunterschieden variieren“ kann. Der norwegische NAF (in etwa ein norwegischer ADAC) testete im Januar die Reichweite im Winter einer Reihe von E-Autos. Kein Fahrzeug erreichte die vom Hersteller angegebene Reichweite, die Abweichungen liegen zwischen 11 und 32 Prozent. Der ŠKODA ENYAQ iV80 ist mit fast 32 Prozent Abweichungsschlusslicht, das Tesla Model 3 Long Range kam am weitesten und überholte sogar den deutlich teureren Mercedes EQS 580 4MATIC.
Zugegeben: Bei Tests im Winter – noch dazu im norwegischen – haben E-Autos wahrlich keine Heimvorteile. Dennoch liegt die Tatsache, dass hier so große Abweichungen vorliegen, schwer im Magen vieler E-Mobilitätseinsteiger. Wie könne es denn sein, dass die Fahrzeughersteller bei der Reichweitenangabe so massiv übertreiben?
Um die Frage zu klären, ist es wohl sinnvoll, dieses ominöse neue WLTP-Verfahren zu erläutern. Das WLTP-Prüfverfahren – „Worldwide harmonized Light vehicles Test Procedure“ – zu Deutsch in etwa „weltweit einheitliches Leichtfahrzeuge-Testverfahren“ dient zur Ermittlung von Abgasemissionen, dem Kraftstoff-/Stromverbrauch und damit auch der Maximalreichweite. Es gilt europaweit und löste 2017 den NEFZ ab, den „Neuen Europäischen Fahrzyklus“. Der Grund für die Änderung des Testverfahrens waren die Grenzwerte bei Abgasemissionen, die in den Jahren davor stetig gesenkt wurden, der Ablauf des NEFZ jedoch nicht nachgezogen wurde. WLTP wird hauptsächlich mit Elektroautos in Verbindung gebracht, eigentlich müssten Hersteller aber tatsächlich alle neuen Fahrzeuge nach WLTP ausweisen. Dies findet jedoch aufgrund der veralteten – Achtung, Bürokratendeutsch – „Pkw-Energieverbrauchs-Kennzeichnungsverordnung“ noch nicht statt.
WLTP & NEFZ
Beide Verfahren haben zum Ziel, Fahrzeuge möglichst gut vergleichbar zu machen. Das ist natürlich beim E-Auto besonders interessant, wo beim Kauf die Reichweite einer der ausschlaggebenden Faktoren ist. Ein entscheidender Unterschied (siehe Tabelle) zwischen NEFZ und WLTP ist die beim WLTP höhere Beschleunigung, sowie die Durchschnitts- und Maximalgeschwindigkeit. Auch wird nun genauestens bei zwei verschiedenen Temperaturen statt in einem Temperaturbereich gemessen.
Doch in diesem und einigen weiteren Punkten weist auch das WLTP nicht genug Weitsicht auf: Testszenarien liegen lediglich für 14 und 23°C vor, deutlich niedrigere oder höhere Temperaturen und auch die Verwendung von Klimaanlage oder Heizung bleiben unberücksichtigt. Sprich: Für den Winter oder heiße Sommertage ist das WLTP damit nicht aussagekräftig. WLTP vergleicht Fahrzeuge stets unter optimalen Bedingungen. Neben Klimaanlage und Heizung spielen aber auch Fahrstil, Topografie und sogar Körpergewicht bzw. Zuladung eine Rolle beim Erreichen von Maximalreichweiten – es wäre aber wohl unrealistisch, wirklich jeden dieser Faktoren bei einem solchen Verfahren zu berücksichtigen. Ein „Trick“ der Autoindustrie ist bei den Reichweitenangaben WLTP jedenfalls nicht zu attestieren. Höchstens bei dem dafür zuständigen politischen Organ.
Haben die für das WLTP zuständigen Experten der „Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa“ fahrlässig oder aufgrund von Lobbyarbeit ein unrealistisches Verfahren entwickelt? Und: Wie nützlich ist die WLTP-Angabe denn überhaupt, wenn Selbstverständlichkeiten wie Wintertemperatur, Heizung und Klimaanlage bei den Tests außen vor bleiben? Über die erste Frage lässt sich wohl nur spekulieren. Es sollte erwähnt werden, dass die im Winter zum Beispiel vom Tesla Model 3 Long Range erreichten 521 km trotz alledem ein phänomenaler Wert sind, insbesondere im Preis-Leistungs-Vergleich mit seinen Reichweitekonkurrenten. Es ist also bei unaufgeregter Betrachtung nicht alles dramatisch schlecht.
Mit ein wenig Fantasie kann selbst in diesem augenscheinlich mangelhaften Verfahren ein positiver Aspekt erkannt werden. Zumindest dann, wenn man voraussetzt, dass die Allgemeinheit der Autofahrer unrealistische Reichweitenvorstellungen für E-Autos hat.
Unrealistische Vorstellungen, unrealistische Angaben
Viele sträuben sich aufgrund des Faktors Reichweite davor, auf ein E-Auto umzusteigen. Diese Behauptung stelle ich nicht unbelegt auf: 24 Prozent von 1.300 befragten Deutschen nennen in einer groß angelegten Ländervergleichsstudie von Deloitte den Faktor ‚Reichweite‘ als ihr größtes Bedenken bezüglich E-Autos (siehe Tabelle). Doch wieviel Reichweite ist überhaupt notwendig, um den Alltag zu bewältigen? Ist die „Reichweitenangst“ der Deutschen realistisch? Die vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur in Auftrag gegebene Studie „Mobilität in Deutschland“ (MiD) aus dem Jahre 2017 hat ermittelt, dass die Deutschen im Durchschnitt pro Tag insgesamt 46 km zurücklegen. Selbstverständlich bedeuten diese Durchschnittswerte nicht, dass E-Autos generell nur eine so geringe Reichweite benötigen, oder dass es keine Lebensprofile gibt, wo eine höhere Reichweite notwendig ist. Aber eben, dass der Ottonormalverbraucher für den allergrößten Teil seiner (Pendel-) Fahrten keine 300, 400, oder sogar 500 km und mehr an Reichweite benötigt. Die Diskussion über die Notwendigkeit von E-Autos mit sehr großen Akkus wurde an anderen Stellen bereits zur Genüge geführt und würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Mein Resümee ist deshalb kurz und knapp: Die meisten Menschen überschätzen stark, wie viel Reichweite sie für ihren Alltag überhaupt benötigen und haben dadurch Bedenken gegenüber E-Autos. Es besteht also ein Widerspruch zwischen den täglich gefahrenen Kilometern und der tatsächlich benötigten Reichweite, auch wenn man bedenkt, dass viele dann doch ein paar Mal jährlich längere Strecken fahren.
Gibt das mangelhafte WLTP vielleicht doch einen Nutzen für den Klimaschutz her, weil ein Teil der Öffentlichkeit weiterhin hauptsächlich aufgrund der Reichweite skeptisch gegenüber der E-Mobilität eingestellt ist? Rein spekulativ, aber möglicherweise hätte eine realistische, niedrigere WLTP-Reichweitenangabe zu einer ungerechtfertigt erhöhten Ablehnung gegenüber E-Autos geführt. Es mag wohl eine kontroverse Meinung sein: die übertriebene Reichweitenangabe könnte dazu beitragen, Hemmungen beim Erstkontakt mit E-Mobilität gar nicht erst entstehen zu lassen. Oder zu Ernüchterung führen, wenn die erste Fahrt im Winter ansteht. Was hilft, ist sich vor dem Kauf gut zu informieren.
Winter vs. Reichweite
Und trotzdem muss ich den Zweiflern am Ende doch teils Recht geben: Es ist nicht zu leugnen, dass die Reichweite von E-Autos im Winter – je nach Fahrzeugmodell mehr oder weniger stark – einbricht. Einige hilfreiche Maßnahmen um im Winter Reichweite zu gewinnen: Vorkonditionierung der Batterie – ob Zuhause oder durch Verwendung des Fahrzeugeigenen Routenplaners –, Vorheizen des Innenraums während das Fahrzeug noch lädt, Modelle mit Wärmepumpe kaufen und Verwenden der Sitzheizung statt den gesamten Innenraum aufzuheizen. Letzteres ist der Reichweitenerhöhung tatsächlich dienlich, zumindest, solange man ausschließlich die Sitzheizung verwendet. Nur den Sitz aufzuwärmen ist deutlich energieeffizienter als den gesamten Innenraum. Wie beim WLTP, die Heizung bei Minusgraden auszulassen, gar nicht erst unter 14°C zu fahren, oder stets dick eingepackt nach „Zwiebelprinzip“ zu fahren, ist für die Mobilität im Winter natürlich keine wirkliche Lösung. Also doch Verbrauchertäuschung?
Verbraucher müssen zum momentanen Zeitpunkt mehr oder weniger unabhängigen Tests vertrauen, um die Reichweite ihres E-Autos in verschiedenen Szenarien zu erfahren. Es liegt demnach nahe, das WLTP um einige Tests zu ergänzen. Vorschlag zur Güte: Minimalreichweite in Extremverhältnissen im Sommer und Winter; speziell Verbrauchs- und Reichweitentests bei Minus- und hohen Plusgraden, mit realistisch aufgeheizter oder runtergekühlter Innenraumtemperatur.
Der Beitrag stammt aus der aktuellen 14. Ausgabe des T&Emagazin, die Weiteres rund um Tesla, E-Mobilität und regenerative Energien enthält.
Die Zeitschrift hat 68 Seiten, prall gefüllt mit Berichten zu Themen der Elektromobilität und zu regenerativen Energien. Das Magazin hat eine Leimbindung und ist dadurch noch schicker geworden.
Ein Exemplar der Ausgabe 14 kann gegen Versandkostenübernahme hier bestellt werden.
5 Exemplare, 10 Exemplare und 20 Exemplare zum Weiterverteilen zu geringen Mehrkosten.
Zu den Inhalten aller vorherigen, älteren Ausgaben geht es hier.
Inhalt der 14. Ausgabe:
- Leser-Reaktionen
- Editorial – Ein wirkliches Privileg
- Tesla Welt – News des Quartals
- Tesla – Eröffnung & Delivery Event Gigafactory Grünheide
- Rede von Elon Musk
- Tesla – Interview mit Jörg Steinbach
- Die Herausgeber – Tesla Fahrer und Freunde (TFF) e.V.
- Die Herausgeber – Tesla Owners Club Helvetia (TOCH)
- S3XY CARS Community – Alles zum großen E-Auto Event
- Elektroauto Guru – Warum sind E-Autos eigentlich so flott?
- Elektromobilität – WLTP-Reichweitenschwindel
- Elektromobilität – Car Maniac E-Auto-Tests
- Veranstaltungen – Saus & Schmaus Brandenburg electric
- Innovator – 6.000 Hände an Franz Liebmanns Lenkrad
- Klimaschutz – Elektromobile Bahnerfahrungen
- Klimaschutz – Wie umweltfreundlich ist die Bahn eigentlich?
- T&Etalk – Rückblick: Ökostrom selber erzeugen & vermarkten
- T&Etalk – Rückblick: Kostenlos Tesla fahren! – ist das verwerflich?
- T&Etalk – Ausblick: Aktien zu E-Mobilität & Energie
- T&Etalk – Ausblick: E-Fahrzeug Design
- Klimaschutz – Gefährdet Tesla die Wasserversorgung?
- Klimaschutz – Prof. Quaschning: Putins Krieg und unser Öl und Gas
- Klimaschutz – Erfahrungsbericht PV, Wärmepumpe & E-Auto
- Zukunftstrends – Trends formen unsere Welt
- Wirtschaft – Interview mit Presse-Großhändler Carsten Müller
- Technophilosoph – Dr. Mario Herger zu Lügen der Autokonzerne
- Wirtschaft – E-Flugzeug: Die leise Revolution am Himmel
- Reisebericht – Über die Alpen mit Model X und Wohnwagen
- Reisebericht – Alles für die Katz: Harus Abenteuer im Tesla
- Fanboy – Gabor Reiter: E-Mobilität in Deutschland
- … und einiges mehr