Car Maniac: Nio ET 7

“Ich halte doch nicht zum Laden, was soll ich denn diese 30 Minuten lang machen?”
Das ist ja ein beliebter Spruch, wenn jemand gegen das Elektroauto argumentiert.

Der chinesische Autobauer NIO nimmt zumindest diesem Argument stark den Wind aus den Segeln. Man könnte sagen: Elektroauto Revolution. Allerdings hat das, wie alle schönen Dinge, einen Haken.
 

Völlig neue Denkweise: Abomodell

Doch fangen wir zunächst einmal damit an, worum es bei diesem Fahrzeug geht.
NIO liefert bereits Fahrzeuge in China aus und auch in Norwegen. Der ET7 ist aber für den deutschen Markt der Auftakt der Marke. Eine 5,10 Meter lange Limousine mit einer völlig neuen Denkweise, was Kundenerfahrung angeht, oder wie man das modern sagt, customer experience. Denn während meines Drehs mit dem Auto gab es keinen fixen Preis, sondern nur ein Abo Modell. Heißt, man konnte das Auto nicht kaufen sondern nur abonnieren. Das hat sich knapp eine Woche nach meinem Dreh geändert. NIO hat prompt auf das Kundenfeedback reagiert und will nun auch den Kauf anbieten. Zum jetzigen Zeitpunkt zahlt man zwischen 1.200 und 1.400 Euro im Monat für das Fahrzeug, je nachdem, ob man sich für einen Monat, 60 Monate oder irgendetwas dazwischen entscheidet und natürlich auch abhängig von den Kilometern.
 
Dass dies kein Schnapper ist, sollte klar sein. Allerdings geht es hier nicht darum das nächste günstige Elektroauto zu zeigen, sondern den momentanen Stand der Technik. Und dieser ist in gewisser Hinsicht schon beeindruckend bei diesem Fahrzeug. Experience fängt an bei der Modellauswahl. Motorisierungen und Co. gibt es hier nicht. Es gibt nur aktuell eine Motorisierung und die hat 300 kW an der Hinterachse und 180 kW an der Vorderachse, also insgesamt 480 kW, respektive knapp über 650 PS. Lediglich bei der Akku Größe kann man wählen: 75 kWh oder 100 kWh. Das macht es in der Konfiguration ziemlich einfach. Hat aber auch den enormen Vorteil, dass man im Falle einer Profiländerung im Alltag von der kleinen Batterie auf die große up- oder downgraden kann, wenn man will.
 
 
Das bietet bisher nur der chinesische Hersteller. Auffällig an dem Fahrzeug, neben der schönen Optik, ist auch das Lidar System, das auffällige Kameras oberhalb der Windschutzscheibe auf dem Dach beherbergt, die nun mit Hilfe von Laserimpulsen arbeiten und nicht mehr radarbasiert, wie bisher. Die Anmutung von außen ist schon wirklich Tipptopp – da kann man nichts sagen. Der Kofferraum ist etwas schwer zugänglich, das kennen wir allerdings schon vom Mercedes EQE. Tesla Model S oder Mercedes EQS haben hier einen Vorteil. Da öffnet der Kofferraumdeckel oben am Dach und ist dadurch besser zugänglich. Auf einen vorderen Kofferraum muss man auch hier verzichten. Felgen gibt es nur in 19 oder 20 Zoll.
 
 
 
Während das Außendesign doch schon relativ charakteristisch für die chinesische Marke ist, erinnert der Innenraum doch sehr stark an Tesla, wenngleich in einer besseren Verarbeitung. Die Materialauswahl ist einfach besser und das Leder fühlt sich natürlich wertiger an, weil es noch echt ist und kein veganes Leder – das ist aber für viele sicherlich ein Kontrapunkt. Wenn man sich dann mit dem vertikalen Display in der Mitte beschäftigt, fällt direkt auf, dass wir hier von einer ziemlich starken Adaption von Tesla sprechen. Menüstruktur, Symbole und auch Funktionen wie die Verstellung der Spiegel über das Display sind sehr stark von der kalifornischen Marke übernommen worden.
 
 
Der Prozessor ist extrem schnell, die sehr charmant klingende Sprachassistentin Nomi, die sogar physikalisch in Form eines kleinen Kopfes aus dem Armaturenbrett ragt, kann allerdings nach einer Weile nervig werden. Man kann zwar ihre Aktivität reduzieren, aber auch dann redet sie noch sehr viel und kommentiert gefühlt jeden Schritt des Fahrers. Leg deine Hand ans Lenkrad sonst deaktiviere ich den Piloten, Zone mit erhöhter Unfallgefahr voraus (was sie dann aber alle zwei Minuten sagt) und so weiter.
 
Sie reagiert auf Sprachbefehle, zwinkert oder hat einen Kopfhörer auf, wenn man sie auf Mute stellt, damit sie keine Sprachkommandos annimmt. Manchmal spielt sie sogar Jojo, wenn sie gerade nichts zu tun hat. Wenn man ihr sagt, sie soll Rockmusik spielen, nimmt sie eine E-Gitarre in die Hand. Alles animiert über ihr Gesicht, das ein Display ist. Für viele ist fraglich ob man es gut findet, von einem chinesischen Auto durch Innenraumkameras beobachtet zu werden. Ich bin da ehrlich gesagt nicht so empfindlich, aber ein bisschen Gedanken mache ich mir darüber tatsächlich auch.
 
 
Ich verstehe zumindest, wenn das für einige ein Nichtkaufgrund ist. Allerdings kann er in Sachen Oberklasse Limousine sehr gut mit den Deutschen mithalten. Das Fahrwerk ist schon auf jeden Fall härter als bei einem EQE oder gar bei einem EQS, mit dem sich der NIO ja gerne vergleichen möchte. Wir haben auch hier eine Luftfederung an Bord, sogar mit einer Anhebefunktion für Schwellen. Des Weiteren verfügt das Fahrzeug über einen Dashcam Modus, der alles um das Auto herum aufzeichnet. Ist ein cooles Feature, um gegebenenfalls Fahrerflucht oder beschädigte Autos nachvollziehen zu können, allerdings eine Grauzone in Deutschland. Die Auflösung ist knackig scharf und unglaublich brillant. Nutzt man die Kameras allerdings für die Rückfahrkamera, ist die Auflösung plötzlich nicht mehr so gut, was ich überhaupt nicht verstehen kann.
 
Die städtische Effizienz mit diesem großen und schweren Auto war mit 16,7 kWh in Berlin herumfahrend doch schon sehr beeindruckend, wie ich finde. Die Power von 650 PS beschleunigt das Auto gefühlt in sieben Sekunden von 60 auf 200 km/h. So schnell geht es natürlich nicht, aber es ist schon wirklich vehement. Der Topspeed von 200 km/h ist halt so eine Diskussionssache. Die Ruhe auf der Autobahn ist wirklich toll, allerdings nicht auf Mercedes EQS oder BMW IX Niveau. Klar, irgendwo muss ja noch der große Preisunterschied zu merken sein. Der gemittelte Verbrauch bei 130 km/h – also Topographie bereits ausgeglichen – lag bei 22 kWh. Damit schafft er die von mir gesetzte imaginäre Toleranzgrenze für Elektroautos von 400 Kilometern auf der Autobahn. Interessant wird es erst beim Thema Laden, einmal negativ, einmal positiv.
 
Für mich völlig unverständlicherweise zieht der Chinese mit seinem großen Akku lediglich 135 kW maximal an einer Schnellladesäule. 40 Minuten gibt NIO von 10 bis 80 Prozent an, ich habe bei meiner Messung diesen Wert unterbieten können, er hat lediglich 34 Minuten für dieses Kunststück gebraucht und von zwei Prozent auch nur 37 Minuten. Das ist auf jeden Fall gut, allerdings auch wieder nicht auf Niveau von BMW und Mercedes, mit knapp 84 nachgeladenen kWh in 31 Minuten beim EQS. Beim NIO waren es in 34 Minuten 62 kWh. Damit kommt er dann bei ermitteltem Verbrauch knappe 300 Kilometer weit. Je mehr Zeit ins Land streicht, desto wählerischer werden Menschen bei den Fähigkeiten von Elektroautos. Hier hat er ja jetzt nicht gerade alles rasiert, um das mal in Jugendsprache auszudrücken. Alles rasieren kann er aber auf andere Art und Weise!
 
Stichwort: Battery Swap! NIO ist aktuell der einzige Hersteller der einen Batterietausch anbietet. Hier ist man zunächst einmal skeptisch, ob es wirklich so schnell geht wie versprochen und ob man das überhaupt braucht, wo doch Elektroautos heute schon in unter 30 Minuten wieder abfahrbereit sind an der Ladesäule. Die Antwort ist ja, man braucht es! Wir dürfen nicht vergessen, dass für viele das Stehengebleibe verständlicherweise noch ein KO-Kriterium ist. Beim Akkutausch geht dieses Argument flöten. Man fährt mit dem Fahrzeug an eine solche Akkutauschstation. Der Wagen übernimmt die Einfahrt auf den entsprechenden Platz komplett autonom. Man kann aus dem Auto aussteigen oder drin sitzen bleiben. Von dem Zeitpunkt an, als das Fahrzeug vor der Station stand bis zum Schluss, habe ich die Zeit gestoppt. Schließlich gehört das Ranfahren auch dazu. In 5 Minuten 57 Sekunden war der Wagen von leerem Akku auf 90% abfahrbereit. Man muss kein großer Kenner sein um zu wissen, dass dies aktuell kein Elektroauto über das Laden schafft. Fakt ist aber, dass die knapp 1.000 Stück, die NIO bauen will bis 2025, nicht besonders viel sind. Für den deutschen Markt sind lediglich 100 solcher Stationen vorgesehen. Hätte man hier Gas gegeben, hätte man eine Revolution geschafft.
 
Vielleicht springen ja andere Hersteller auf diesen Zug auf oder Startup Unternehmen, das würde allerdings voraussetzen, dass jedes Elektroauto einheitlich gleiche Akkus hat. Deswegen ist das schon wirklich beeindruckend, aber viel kaufen kann man sich davon aktuell nicht. Solch eine Station steht aktuell nur in Berlin bei der Motorworld und in Zusmarshausen in Bayern.
 
Wer weder in der Nähe des einen noch des anderen Ortes wohnt, der muss sich mit den 135 kW Ladeleistung begnügen.

Fazit

Alles in allem haben die Chinesen gezeigt, dass sie wirklich Premium können! Zwar nicht an der Ladesäule, aber in Sachen Verarbeitung und Optik und Power definitiv JA. Es bleiben nur ein paar Fragen aus:

  • Will man wirklich von Kameras permanent beobachtet werden?
  • Und will man wirklich die ganze Zeit, dass die Sprachassistentin Nomi ununterbrochen mit einem quatscht?

Wen das nicht stört, der kriegt für einen wesentlich günstigeren Preis als von der Konkurrenz eine unglaublich schnelle und auch schöne Reiselimousine mit wahnsinnig viel Platz hinten. Sitzlüftung und Sitzheizung sind auch auf jedem Sitz verfügbar. Wer den Wagen kaufen anstatt abonnieren will, der muss noch ein bisschen warten, denn NIO wollte den Wagen aufgrund des Feedbacks, wie gesagt, eben auch als Kauf anbieten. Interessant zu wissen ist auch, dass man zum Service nicht fahren muss, sondern jemand von NIO kommt – und zwar flächendeckend – völlig egal wo man wohnt. Ebenso wird das Fahrzeug kostenlos angeliefert.

Das Video von Car Maniac:


Weitere Car Maniac E-Auto-Tests sind auch in der im Oktober neu erschienenen 16. Ausgabe des T&Emagazin zu finden:

 

 

Die Ausgabe 16 des T&Emagazin
(3. Quartal) ist erschienen
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Sie kann in gewünschter Menge gegen Porto- und Bearbeitungskosten bestellt werden.

 

Die Themen:

  • Editorial – Timo Schadt: Handlungen sind erforderlich
  • Tesla Welt – News des Quartals
  • Elektromobilität – Dirk Bergel: S3XY CARS Community 2022
  • Elektromobilität – S3XY CARS Community auch 2023?
  • Elektromobilität – Martin Hund: Produktion, Bauformen, Arten von Zell-Packs
  • Elektromobilität – Timo Schadt: Ein persönlicher Befreiungsschlag – Weg vom Verbrenner!
  • Elektromobilität – Christoph Krachten: E-Auto-CO2-Bilanz
  • Elektromobilität – Dr. Heiko Behrendt: PKW Kosten
  • Elektroauto Guru – E-Autos zu teuer wegen Strompreis?
  • Elektromobilität – Car Maniac E-Auto-Tests
  • T&Etalk – Rückblick: Campen mit E-Auto
  • T&Etalk – Tesla AI Day II, Jahresbilanz Energie- & Verkehrswende
  • Technophilosoph – Dr. Mario Herger zum AXA-Skandal
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  • Klimaschutz – Dr. Heiko Behrendt: Darmstadt, Toulouse reloaded – Dürre
  • Innovator – Gespräch mit Martin Hund
  • Wirtschaft – Christof Reichel: Meilensteine kreativen Auto-Designs
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