Dr. Heiko Behrendt: Elektromobile Bahnerfahrungen

Eine historische Aufnahme: Der Ausbau des Schienennetzes ist Geschichte. Bau der ICE Strecke Hannover-Würzburg in den 1990ern. Foto: Timo Schadt

Ein Sport, der fast alle Deutschen vereint, ist Bahn-Bashing. Frage ich irgendjemanden nach seinen Erfahrungen, höre ich nur Verspätungs-Stories und wie schlimm alles sei. Das ist nach Evolutionsregeln sinnvoll, denn schlechte Erfahrungen zu speichern ist für das Überleben sinnvoller, als sich die Momente zu merken, wo alles gut ging. In einem Land, wo man laut Christoph Lichtenberg das Nase rümpfen früher lernt als das Nase putzen, mag das nicht erstaunen. Statt in die gleiche Kerbe zu hauen, habe ich solche Menschen gefragt, in welchem Land denn bessere Systeme zu finden seien – meist ohne Antwort.

Natürlich ist es zu viel, wenn immer noch jeder fünfte bis sechste Zug zu spät kommt. Die Ursachen liegen meiner Erfahrung nach in der Mischung von schnellem und langsamen Personenverkehr sowie von Personen- und Güterverkehr, in zum Teil maroder Technik von Strecken und deren Kapazitätssteuerung, in suboptimaler bahninterner Kommunikation, in vielen externen Störungen (Sturm, Schnee, jeden Tag mindestens ein Selbstmord auf der Schiene) und in der Orientierung an der jeweils auf einer Strecke maximal fahrbaren Geschwindigkeit sowie zu kurzen Haltezeiten, sodass keine Zeitpuffer existieren. Solche Störungen summieren sich und pflanzen sich dann im Netz fort.

Das ist auch der Grund, warum Japan und die Schweiz als leuchtende Beispiele pünktlichen Bahnverkehrs herhalten müssen. Allerdings: In Japan ist das Shinkansen-Netz komplett vom langsameren Güter- und Nahverkehr getrennt, es gibt keine Bahnübergänge, die Gleise sind für Personen und Tiere unzugänglich, in nicht immer angefahrenen Bahnhöfen wurden bahnsteiglose Durchfahrtgleise gebaut, alle Züge werden zentral und digital gesteuert und gegen Schnee existieren Schutz- und Sprinkleranlagen. In der Schweiz wiederum ist das Netz dagegen so viel kleiner, dass sich Verspätungen kaum summieren können. Außerdem sind die Standzeiten in den Bahnhöfen deutlich länger als in Deutschland, sodass kleine Verspätungen aufgefangen werden.
Dass es in Deutschland besser sein könnte, liegt vor allem am jahrzehntelangen Desinteresse der Politik. Das Geld wurde in Auto-Infrastruktur gesteckt, angetrieben von der Autolobby. Das Ergebnis sind unter anderem unsere von autofahrenden Männern geplanten Städte, in denen sich zu bewegen nur im Auto Spaß macht (auch wenn ich mittlerweile nur noch selten von Spaß höre). Ein angstfreies Bewegen ist dagegen mit Kinderwagen, als Kind oder älterer Mensch, oder mit dem Fahrrad in vielen Straßen unmöglich, mal ganz abgesehen von dem Lärm und Dreck. Der motorisierte Individualverkehr wird nicht umsonst mit MIV abgekürzt. Zumindest Lärm und Dreck dürften sich dagegen mit E-Autos deutlich verringern, die anderen Kehrseiten der Autopolitik sind damit aber nicht gelöst.


Als die Politik angefangen hat, sich dafür zu interessieren, mussten Prestige-Projekte her (Waaas? Frankreich hat einen TGV – wir wollen das auch!). So kommt es, dass die Strecke Frankfurt-Köln zwar mit 300 km/h gefahren wird, der ICE aber vor Köln in das alte, langsame Netz einfädelt, an denen teilweise noch die alten mechanischen Signale aus Blech stehen. Viel grundsätzlicher sind allerdings drei lange zurückliegende strategische Fehlentscheide von Bahn und Politik. Zum ersten: die Fahrzeiten auf Höchstgeschwindigkeit auszulegen, was die pünktliche Vernetzung sehr anfällig macht, selbst bei kleinen Störungen. Zum zweiten, den schnellen Fernverkehr viel zu wenig vom langsameren Fern- und Güterverkehr zu trennen. Und zum dritten, der Rückzug aus der Fläche, was dazu führt, dass alle, die sich abseits der Ballungszentren in ihr Auto setzen, darin auch bis zum Ziel fahren.
Dennoch bin ich mir sicher, dass ich auf meinen vielen Fahrten weniger Verspätungen hatte, als wenn ich auf der Autobahn gefahren wäre. Auf im Mittel 46 Stunden Stau – sprich: Verspätung – pro Jahr, wie der Verkehrsinformationsanbieter Inrix für Autofahrer allein beim Pendeln in den größten deutschen Städten ermittelt hat, bin ich beim Bahnfahren nicht gekommen. Auf längeren Strecken überhole ich das Auto in der Regel locker. Die Bundesanstalt für Straßen hat für den Zeitraum 2010 bis 2014 eine mittlere Geschwindigkeit auf den Autobahnen von 117 km/h ermittelt, Tank- und Pinkelstopps nicht mitgezählt. Das dürfte seitdem nicht besser geworden sein.

Regelmäßig mit der Bahn von Frankfurt nach Hamburg in viereinhalb Stunden Tür-zu-Tür? Hamburg-München in fünfeinhalb Stunden Tür-zu-Tür? Eben.
Es ist natürlich auch Gewohnheit. Auf deutschen Autobahnen ist es selbst als Beifahrer reiner Stress, an den ich mich nie gewöhnen werde.

Was ich in der Bahn beobachtet oder gemessen habe:
Muss ich mich im Zug anschnallen? Nein, ich laufe sogar herum.
Kann ich im Auto pinkeln gehen? In der Bahn schon, einmal zum Klo und zurück bei 250 km/h = 12 Kilometer Strecke.
Essen? Im Speisewagen sind zwischen Bestellen und Bezahlen 100 Kilometer hinter mir.
Aufenthalte zum Laden oder Auftanken? Wozu?
Menschen kennenlernen? Kommt im Auto nicht vor. Vielleicht an der Ladesäule.
Habe ich am Zielort ein Buch durchgelesen (20 Seiten auf 100 km)? Konnte ich arbeiten? Habe ich mich ausgeruht? Konnte ich sogar schlafen? Im Auto nicht.

Zudem fährt die Bahn nach eigenen Angaben zumindest auf Fernstrecken mit Ökostrom. Und die Kosten? Etwa 12 Cent pro Kilometer Bahn-Elektromobilität, das heißt, die 800.000 Kilometer, die ich bisher mit der Bahn gefahren bin, haben mich und meine Arbeitgeber zu heutigen Preisen etwa 96.000 Euro gekostet, in fast 40 Jahren, 200 Euro pro Monat, für jeweils 1.666 Kilometer. Da kann ich die letzte Meile locker mit Taxis fahren.

Was brauchen wir in Zukunft?


Wenn jetzt alle auf die Bahn umstiegen, bräche das System zusammen, das ist klar. Brauchen deshalb alle ein E-Auto? Nein. Was wir bräuchten, ist ein schneller Abbau des Investitionsstaus bei der Bahn, im Fern- und Nahverkehr. Was wir brauchen ist mehr Kompetenz im Bahnfahren, das sollte jede/r bereits im Kindesalter lernen. Dann könnten wir es so machen wie die Schweizer. Ist das Auto schneller, kann ich das E-Auto nehmen, ist die Bahn schneller, oder möchte ich mich mit der Familie unterhalten, nehme ich die Bahn. Ein pragmatisches Verhalten bei der Wahl der Verkehrsmittel – das brächte Ruhe in das Leben, in die Mobilität und in die Städte. In Zürich macht bereits die Mehrheit der Jugendlichen keinen Führerschein. Denn dort komme ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln überall hin und kann während der Fahrt meinen Freunden Videos zeigen oder chatten. Dort ist das Auto aber auch kein subventioniertes Statussymbol.

Bleiben wir in der Schweiz, ich der ich lange Zeit gearbeitet habe. Die Schweizer können Bahnfahren. Sie lernen es bereits bei Schulausflügen, sie lernen es in der Familie, wo oft pragmatisch immer wieder die Bahn genutzt und das Auto stehen gelassen wird. Diesen Pragmatismus gibt es in Deutschland kaum, hier ist man entweder Auto- oder Bahnfahrer, und zwar ziemlich strikt. In der Wochenzeitung Die ZEIT stand einmal: Die Schweizer würden ihre Bahn so gerne mögen, dass sie sogar damit fahren. Das ist mit Abstand der größte Unterschied. Bei Volksentscheiden bekommen Vorhaben der Schweizer Bahn regelmäßig deutliche Mehrheiten. So gab es bei der Entscheidung zur Untertunnelung des Zürcher Hauptbahnhofs zu Kosten von etwa fünf Milliarden Schweizer Franken eine satte Mehrheit von 65 Prozent. Und dann wurde das Projekt in weniger als zehn Jahren realisiert. Ein ähnliches Projekt stand für Frankfurt bereits 1990 im Bundesverkehrswegeplan, realisiert ist es nicht. In der Schweiz wurde ein neuer Gotthard-Bahntunnel in 12 Jahren durchgezogen, die Zufahrten sind auf deutscher Seite seit den 70er Jahren in Planung, ein paar Stückchen sind realisiert.

Wir brauchen in Deutschland also keine 300 km/h auf der Schiene, das ist viel zu energieintensiv. Wir brauchen 300 km/h in der Planung von neuen und beim Reparieren alter Strecken. Bei der Digitalisierung des Betriebs. Praktisch muss vor Prestige kommen. Der Informationsfluss zwischen den Bahnmitarbeitenden und zu den Fahrgästen muss besser werden. Und wir brauchen mehr Menschen, die das Bahnfahren beherrschen.

 


Der Beitrag stammt aus der Ausgabe 14 des T&Emagazins.

In der Ausgabe 14 des T&Emagazin, sind weitere spannende Themen rund um E-Mobilität, Tesla und regenerative Energien zu finden.

Die Zeitschrift hat 68 Seiten und ist prall gefüllt mit Berichten zu Themen der Elektromobilität und zu regenerativen Energien. Das Magazin ist Dank seiner Leimbindung noch schicker.

Ein Exemplar der Ausgabe 14 kann gegen Versandkostenübernahme hier bestellt werden.

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Zu den Inhalten aller vorherigen, älteren Ausgaben geht es hier.

 

 

Inhalt der 14. Ausgabe:

  • Leser-Reaktionen
  • Editorial – Ein wirkliches Privileg
  • Tesla Welt – News des Quartals
  • Tesla – Eröffnung & Delivery Event Gigafactory Grünheide
  • Rede von Elon Musk
  • Tesla – Interview mit Jörg Steinbach
  • Die Herausgeber – Tesla Fahrer und Freunde (TFF) e.V.
  • Die Herausgeber – Tesla Owners Club Helvetia (TOCH)
  • S3XY CARS Community – Alles zum großen E-Auto Event
  • Elektroauto Guru – Warum sind E-Autos eigentlich so flott?
  • Elektromobilität – WLTP-Reichweitenschwindel
  • Elektromobilität – Car Maniac E-Auto-Tests
  • Veranstaltungen – Saus & Schmaus Brandenburg electric
  • Innovator – 6.000 Hände an Franz Liebmanns Lenkrad
  • Klimaschutz – Elektromobile Bahnerfahrungen
  • Klimaschutz – Wie umweltfreundlich ist die Bahn eigentlich?
  • T&Etalk – Rückblick: Ökostrom selber erzeugen & vermarkten
  • T&Etalk – Rückblick: Kostenlos Tesla fahren! – ist das verwerflich?
  • T&Etalk – Ausblick: Aktien zu E-Mobilität & Energie
  • T&Etalk – Ausblick: E-Fahrzeug Design
  • Klimaschutz – Gefährdet Tesla die Wasserversorgung?
  • Klimaschutz – Prof. Quaschning: Putins Krieg und unser Öl und Gas
  • Klimaschutz – Erfahrungsbericht PV, Wärmepumpe & E-Auto
  • Zukunftstrends – Trends formen unsere Welt
  • Wirtschaft – Interview mit Presse-Großhändler Carsten Müller
  • Technophilosoph – Dr. Mario Herger zu Lügen der Autokonzerne
  • Wirtschaft – E-Flugzeug: Die leise Revolution am Himmel
  • Reisebericht – Über die Alpen mit Model X und Wohnwagen
  • Reisebericht – Alles für die Katz: Harus Abenteuer im Tesla
  • Fanboy – Gabor Reiter: E-Mobilität in Deutschland
  • … und einiges mehr
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