Eine Rundfahrt mit dem Rad

In einer Herz-Rehabilitation hatte ich vier Mal in der Woche Training, Kraft, Koordination und Ausdauer. Montags gab es Gehirnwäsche in Form von Vorträgen und Beratung zu Ernährung, Medikation und Bewegung. Ein zentraler Dialog:

Sie müssen Ihr Herz, sprich Ihre Ausdauer trainieren.

OK.

Wirklich, sonst geht’s wieder schief!

OK. Ich mach’s! Ich schwöre!

Ich bin früher viel Rad gefahren. Später ist das in Arbeiten, Pendeln und dem damit verbundenen Stress weitestgehend unters Eis geraten. Der verstopfte Kalender führte zu einem fast komplett verstopften Herzkranzgefäß. Das Ergebnis: Notfall-Stent-Einlage und ambulante Reha.

Inzwischen radle ich verschärft in der Darmstädter Gegend herum. Da kann man zum Thema Radverkehr viel beobachten. Zugegeben, auch in Darmstadt ist in den letzten paar Jahren der eine oder andere Radweg entstanden. Sogar teilweise auf Kosten des Platzes für Autofahrer. Immerhin. Ansonsten sind die alten Stiefmütterlichkeiten an der Tagesordnung. Ein paar Beispiele und die sind nicht typisch für Darmstadt, sondern überall in Deutschland zu finden:

In der Fußgängerzone dürfen sich Radfahrer:innen bewegen. Das ist gut und es klappt mehr oder weniger im friedlichen Miteinander, mit Ausnahme von ein paar Prozent Deppen, welche die Stimmung gegenüber Radfahrer:innen versauen.
Es gibt dort an einer Stelle ein Gefälle, wo bergab Radfahren verboten ist. Das ist richtig. Eine für Radfahrer:innen ausgeschilderte Umgehung führt aber auf eine Krass-Kopfsteinpflaster-Straße, die natürlich kaum jemand nutzt.

Städte sind in den letzten Jahrzehnten von autofahrenden Männern geplant worden. Auch Darmstadt. Radwege, wenn es sie denn gibt, werden an jeder Straßeneinmündung von zwei Kanten unterbrochen, sie sind teilweise nicht befestigt, sie haben Löcher und Baumwurzeln, sie sind unübersichtlich, sie sind zugeparkt, sie enden im Nichts, wenn die Straße schmal wird, auf ihnen liegt, im Gegensatz zur Straße nebendran, nasses Laub, Schnee gibt es in Darmstadt nicht mehr. Kurz, die Radwege werden kaum gepflegt. Im Umland wird es nicht besser. Dort wurden viele Radwege ausgewiesen, man hat haufenweise grüne Schilder aufgestellt und das war es dann. Die Richtungsangaben sind immer wieder inkonsistent, Zielorte, die auf einem Schild angeführt werden, fehlen an der nächsten Abzweigung. Viele Schilder sind mit Algen zugewachsen. Es kann sein, dass in der richtigen Richtung die Kilometerangaben erst sinken und dann wieder steigen. Und dann die Wege selbst, denn außer Schilder aufstellen wurde kaum etwas getan: Löcher, nur mit Mountainbikes befahrbarer Schotter, Baumwurzeln, Steine, die mehrere Zentimeter aus dem Weg ragen. Mein Verdacht: es gab Budget für Schilder, das war’s, kein Ausbau, keine Pflege. Es wirkt darüber hinaus so, als wenn Autostraßen regelmäßig auf Sicherheit gecheckt werden, Radwege aber nicht. Immerhin hat der Landkreis jetzt eine Homepage, auf der man Gefahrenstellen eingeben kann. Ich bin gespannt, was passiert.

Zurück in der Stadt fällt auf, wie oft Radwege zugeparkt sind, in der Regel nur kurz, meist von Paketdiensten. Die umkurve ich nach einem Blick nach hinten, ohne mit der Wimper zu zucken, denn die Paketleute sind arme Schweine. Neulich, in Frankfurt, stand ein PKW quer mit der Fahrertür zu mir, der Fahrer telefonierend. Es ist eine gute Idee, zum Telefonieren rechts ranzufahren, doch ich kam nirgends vorbei. Also bremste ich bis zur Tür und bleib dort stehen, machte ein paar italienische Gesten, die nicht strafbar sind. Er legte auf und fuhr davon.

Doch bevor Radfahrgegner tief einatmen. Unter den Radfahrenden, den Autofahrenden und den zu Fuß gehenden sind konstant ein paar Prozent, die es nicht raffen. Das ist gleich verteilt. Der große Rest schafft es, sich zu konzentrieren, den Überblick zu behalten, andere vorzulassen, da ist ein Lächeln mehr wert als das am Tag erstresste Geld. Aber eben die paar Prozent schaffen es, dass in Foren und Leserbriefen sich unterschiedliche Verkehrsteilnehmer angiften. Das bringt es auch nicht.

Für die Sicherheit beim Radfahren haben sich in mir ein paar Regeln ausgebildet, die über die allgemeinen Verkehrsregeln hinausgehen und die mich überleben lassen:

1. Radle nur dort schnell, wo es geht, auf gutem Belag, bei Übersichtlichkeit, d.h. sehe ich genug, werde ich gesehen?

2. Ich habe die Mode unter den Fahrradherstellern umgangen, schwarze Fahrräder auf den Markt zu bringen. Orange Folie hat mein Fahrrad sichtbarer gemacht, Reflektorfolie gibt es auch. Mein Helm ist weiß, meine Jacke hat eine Leuchtfarbe.

3. LKW an der Kreuzung? Ich versuche, Blickkontakt (über den LKW-Spiegel) zum Fahrer aufzunehmen. Wenn es klappt, gibt es eine nonverbale Verabredung. Meist werde ich vorgelassen. Funktioniert das nicht, bewege ich mich nicht, sondern schaue, was der macht und lasse ihn um die Ecke fahren. Bringt das unbedingt auch euren Kindern bei.

4. Habe ich mein Licht vergessen oder funktioniert es nicht? Dann verhalte ich mich wie ein Fußgänger und gehe grundsätzlich davon aus, nicht gesehen zu werden.

5. Wenn es regnet, sieht ein Autofahrer fast nichts. Ich rechne also mit allem und fahre sehr defensiv.

6. Fährt ein Auto langsamer als üblich, dann kann es sein, dass es im nächsten Moment ohne zu Blinken in eine Parklücke oder eine Einfahrt einbiegt.

Durch Mitdenken habe ich schon einige sichere Kollisionen vermieden, bis auf eine, da bin ich einem Ohne-Blinken-Abbieger in den Außenspiegel gefahren. Ich bin über den Lenker abgestiegen, habe mich auf der Straße abgerollt und bin durch den Schwung wieder gestanden. Das fand ich filmreif, glücklicherweise habe ich mich nicht verletzt. Der Autofahrer hat mir einen Zehner gegeben, für einen Kaffee. Ich bin auch schon in eine sich öffnende Fahrertür gefahren, einfach geradeaus, denn ein Schlenker hätte mich unter einen Container-LKW befördert. Das war Intuition.

Für E-Bikes gelten die Regeln erst recht, denn mit ihnen wird in der Regel noch schneller gefahren als mit einem normalen Fahrrad. Ich habe kein E-Bike, denn, siehe links, ich soll ja mein Herz trainieren. Ich kenne aber zwei Menschen, die eines gekauft haben, vor allem mit der Idee, das Pendeln mit dem Auto durch Pendeln mit dem E-Bike weitgehend zu ersetzen. Beide tun dies aber nur, weil auf einem Teil ihrer Strecke ein neuer Fahrrad-Fernradweg gebaut wurde. Auch daran ist erkennbar, dass ein Umstieg vom Auto auf das Fahrrad gute und sichere Radwege voraussetzt. Sicher vor allem, denn der Pendelverkehr am Beginn und am Ende eines Arbeitstages ist besonders stressig, weil die Fahrer, Auto oder Rad, morgens noch nicht wirklich wach und nach der Arbeit bereits wieder müde sind.

Die meisten E-Bikes werden allerdings in der Freizeit genutzt. Auch hier gilt, gute, sichere Radwege bringen mehr Menschen auf das Fahrrad. Das ist sauberer, als die gleichen Wege mit anderen Verkehrsmitteln zurückzulegen. Ein E-Bike hat bereits eine positive Umweltbilanz gegenüber dem Auto, wenn es mindestens 165 Kilometer gefahren ist, so schreibt Stephan Kümmel auf radfahren.de. Das Recycling der E-Bike-Batterien ist zwar noch in den Kinderschuhen, doch erste Verfahren sind bereits erprobt. Die bisherigen, heißen Verfahren erzeugen nur Schlacke, die im Straßenbau verwendet werden kann. Das ist nur Downcycling, kein Recycling. Kalte Verfahren sind derzeit noch nicht industriell verfügbar, aber bereits ausgedacht und im Labormaßstab getestet.

Wie werden E-Bikes gefahren? Aus meiner Beobachtung heraus oft viel zu schnell, weil es so einfach ist. Da frage ich mich manchmal, ob die Radler:in das wirklich beherrscht, vor allem das Bremsen. Ist die Radfahr-Erfahrung vorher groß, sollte es kein Problem sein, doch immer wieder werden E-Bikes von Menschen gekauft, die lange nicht mehr Fahrrad gefahren sind. Menschen, die sich selbst überschätzen, gefährden sich. Und dann gibt es noch das Tuning, weil E-Bikes bei 25 km/h die Motorunterstützung abregeln. Jeder kann legal ein Token kaufen und damit illegal die Geschwindigkeit verdoppeln. Bei einem Unfall zahlt die Versicherung allerdings nicht, man kann sich damit also ruinieren, und, z.B. bei einer schweren Körperverletzung, sogar im Knast ein wenig darüber nachdenken.

Auch Lastenräder sind immer mehr zu sehen, vor allem Kinder werden darin gefahren. Hier wird oft auch eine Autofahrt ersetzt. E-Bikes sind schwer, Lastenräder sind nicht nur schwer, sondern auch sehr groß. In Geschoßwohnungs-Gebieten existieren für beide Radarten kaum sichere Abstellplätze. Ein normales Fahrrad kann man noch in den Hinterhof schleppen, ein E-Bike nicht, ein Lastenfahrrad schon gar nicht. Auch hier ist die Lokalpolitik noch nicht auf der Höhe der Zeit, denn ein kostenfrei für Autos gebauter und nutzbarer Parkplatz vor dem Haus darf nicht zu einem Fahrradparkplatz umgebaut werden. Der Tipp unserer Stadt: bauen sie doch die Fahrradparkplätze in den Vorgarten. Wenn sie dies tun, müssen aber für zehn Wohnungen zehn Plätze gebaut werden, mit Mindestabstand und so weiter. Eine eher schlechte Idee: Für klimafreundliche Fahrräder soll der klimafreundliche Garten verschwinden, die Autoparkplätze bleiben dagegen unangetastet. Und dann sind da noch die Lademöglichkeiten. Auch hier herrscht großer Nachholbedarf. Immerhin hat Darmstadt, wo ich wohne, in den letzten Jahren 4 Millionen Euro jährlich in den Radverkehr gesteckt, das ist auch bereits ‚erfahrbar‘. Gleichzeitig wurden 20 Millionen Euro jährlich für den Straßenverkehr ausgegeben. Interessant, denn 22 Prozent der Wege in der Stadt werden mit dem Fahrrad zurückgelegt, 35 Prozent mit dem Auto. Auf Wegen zwischen einem und drei Kilometern liegt das Fahrrad hier sogar vor dem Auto. Dennoch fließt immer noch fünfmal so viel Geld Richtung Auto. Damit kann sich Darmstadt sogar als Musterstadt für den Radverkehr beschreiben. Nebenbei: Für den Umbau des Autobahnkreuzes Darmstadt, ein paar Kilometer weiter, werden 96 Millionen ausgegeben, allerdings vom Bund.

Kurz: In die Verkehrsplanung gehören noch mehr nicht autofahrende Menschen, mehr Frauen, mehr Kinder. Kinder haben einen ganz anderen Blickwinkel darauf, wo sie sich im Verkehr sicher fühlen und wo nicht. An vielen Stellen, wo in Ortschaften Tempo 30 gilt, merkt man als Erwachsener auf dem Fahrrad bei Tempo 30: es ist selbst mit dem Fahrrad noch viel zu schnell.

Damit Fahrradfahren auf den kürzeren Strecken eine echte Alternative zum Auto wird, muss es sicherer werden. Mehr und bessere Wege, mehr von Hauptstraßen getrennte Wege, mehr Übersichtlichkeit, mehr Vorrang und in Ortschaften Tempo 30, wo es keine Radwege gibt. Fahrradfahren ist noch besser für das Herz, wenn neben dem Trainingseffekt auch weniger Stress im Verkehr herrscht. Doch Fakten zu erzählen bringt nichts, weil Handeln meist nicht auf Fakten basiert. Wenn ihr radelt, handelt ihr. Wenn ihr mehr und bessere Radwege fordert, handelt ihr. So wird es besser werden. Jeder Weg zu Fuß oder mit dem Rad macht die Luft besser und das nicht nur, weil die Radfahrer:in mit ihrer Lunge die Luft filtert.


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Gelesen werden kann dieser Artikel auch in der Printversion Ausgabe 17 des T&Emagazin.

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Editorial – Handlungen sind erforderlich

Tesla Welt – News des Quartals

Tesla – Christoph Krachten: Tesla uneinholbar?

Tesla – S3XY CARS Community 2023?

Tesla – Dana Blagojevic: Hansjörg von Gemmings unendliche Fahrt

T&Etalk – Tesla Model S & X Plaid in Europa

T&Etalk – Tesla AI Day II

 

Die Herausgeber – Tesla Owners Club Helvetia (TOCH)

Die Herausgeber – Tesla Fahrer und Freunde (TFF) e.V.

Elektroauto Guru – Antonino Zeidler: Spezielle Reifen für E-Autos

Elektromobilität – Timo Schadt:Essener Motorshow

Elektromobilität – Christoph Reichelt: Elektrische Fahrzeugdesigns

Technophilosoph – Dr. Mario Herger: Robotaxi und Tesla FSD Beta

Innovator – Gespräch mit Nicole Krause zu Full Self Driving

Elektromobilität – Car Maniac E-Auto-Tests

Elektromobilität – Leseprobe Witziges Buch über‘s E-Auto

Elektromobilität – Martin Hund: Batterie-Rohstoffe

Klimaschutz Dr. Heiko Behrendt: Unsere Fahrweise 

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