Straßenbahn: Nostalgie mit Zukunft?

Ist die Straßenbahn ein Verkehrsmittel von gestern? Oder ist sie eine Lösung für die Stadt der Zukunft? Zu beiden Fragen lassen sich in Deutschland Bilder finden, uralte Wagen mit hohem Einstieg, aber auch ultramoderne mit flachem Einstieg, schönen Farben und viel Licht. Schon die Fragen nach dem Entweder-Oder ist eine typisch deutsche Frage.

»In Deutschland sind die Fronten bei der Straßenbahn verhärtet«, urteilt Mobilitätsforscher Knie. Einige verteidigen sie bis aufs Blut und wollen überall nur Straßenbahnen, nur eine Minderheit sehe die Tram als Option in einem größeren System. »Und dann gibt es die große Gruppe der Gegner, die keinesfalls wollen, dass dem Auto etwas weggenommen wird«, so Knie.
Aus Österreich kommt eine nicht emotionale Stimme, welche eher die Vorteile in der Technik und im bewältigbaren Verkehrsvolumen sieht: Die Straßenbahn ist Teil der Elektromobilität, denn auch sie fährt mit Strom. Sie passt perfekt ins zukunftsweisende Verkehrskonzept urbaner Gebiete, sagt der Verkehrsexperte Harald Jahn: „Man braucht keine Batterien, die Straßenbahn speist sich aus Oberleitungen, beim Bremsen wird sogar Strom rückgespeist.“ Die Vorteile der Straßenbahn im Vergleich zu anderen Systemen lägen auf der Hand: Eine Straßenbahn bewältigt das dreifache Passagiervolumen wie ein Bus. Sie ist um den Faktor 10 günstiger zu bauen als eine U-Bahn. Und die Verkehrsfläche, die die Straßenbahn braucht, ist meist auch für andere Fahrzeuge wie Fahrräder oder Autos offen.

In Frankreich ist dessen starke Stadtplanungs- und Design-Tradition in der Verkehrsplanung zu erkennen. Dort verkaufte man den Bürgern eine Straßenbahn nicht als Verkehrsmittel, sondern als Teil einer ganzheitlichen, auf Lebensqualität ausgerichteten Strategie. Innenstadtstraßen wurden durch Fußgängerzonen mit Straßenbahnen ersetzt, Gleise wurden begrünt, utopisch anmutende Fahrzeuge verschafften den Fahrgästen das Gefühl, ein Teil der Zukunft zu sein. Wer damit fährt, darf sich modern fühlen. 29 Städte betreiben inzwischen Straßenbahnen, die meisten davon erst in den 2000er Jahren eröffnet. Französische Städte haben es leichter, sie können eine Nahverkehrsabgabe von den örtlichen Arbeitgebern erheben, haben also mehr eigene Mittel – und können so bestimmen, was sie bauen.

Noch besser ist die Lage in der Schweiz. Dort haben Straßenbahnen Tradition, sie sind fest verankert in den Köpfen der Einwohner, man ist geradezu Stolz darauf. Sie werden zusammen mit Bussen von 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung für Wege in der Stadt genutzt – traumhafte Zahlen. Zwei herausragende Beispiele sind Zürich und Basel. Dort gibt es Straßen, in denen sich mehr Personen in Straßenbahnen bewegen als in Autos. Wie kommt das?

Beispiel Zürich

In den 50er und 60er Jahren wurde in Zürich versucht, eine autofreundliche Stadt einzurichten. Es hat nicht funktioniert, die Stadt ist unter anderem zu eng. Eine Stadtautobahn auf einem Fluss ist ein Zeuge dieser Zeit – ein ganz übles Beispiel. Ab den 80er Jahren ging die Verkehrspolitik einen anderen Weg. Der öffentliche Verkehr und der Fußverkehr bekamen Vorrang: Fußgängerzonen, Ausbau des Straßenbahn- und Busnetzes, Bewirtschaftung des Parkraums. Es gibt in Zürich quasi keinen Parkplatz, der nichts kostet. Ein sogenannter Laternenparkplatz kann bis 50 Franken im Monat kosten, ein Tiefgaragenplatz in einem Mietshaus kann 160 Franken im Monat kosten, zwei Stunden in der Innenstadt kosten acht Franken. Auch beim Fahren mit einem Auto wird es mühsam, denn die Lichtsignalanlagen sind flächendeckend mit Sensoren ausgestattet, die Steuerungen geben dem ÖPNV Vorrang. Bei dem dichten Bus- und Tramverkehr fallen damit für das Auto regelmäßig Ampelphasen weg. Aber warum Auto fahren, es ist zu teuer und mit Bus und Tram kommt man beinahe überall hin, ein 5 oder 7-Minuten-Takt ist normal.
Diese Priorisierung macht sich natürlich auch im Modal Split bemerkbar: Der öffentliche Verkehr konnte in Zürich von 30 Prozent im Jahr 2000 auf 41 Prozent im Jahr 2015 zulegen (neuere Zahlen liegen noch nicht vor). Mit dem motorisierten Individualverkehr (MIV) wurden 2015 25 Prozent der Wege zurückgelegt, 2000 waren es noch 40 Prozent. Der Fußanteil blieb weitgehend stabil bei 26 Prozent, das Fahrrad konnte sich von 4 auf 8 Prozent verdoppeln, wenn auch auf geringem Niveau.
Ein weiteres gutes Beispiel für ÖPNV- und fußverkehrsfreundliche Verkehrsorganisation bei gleichzeitig sehr hoher Verkehrsleistung ist das Central, ein Platz zwischen Hauptbahnhof und Universität Zürich. Hier treffen sechs Straßen aufeinander, drei davon von Straßenbahnen befahren, weitere mit Bussen. Trotzdem wird hier auf Ampeln verzichtet (außer natürlich die speziellen Signale für Straßenbahnen und Busse). Es gilt also Vorrang für ÖPNV und Fußverkehr.

Beispiel Basel

Basel hat die wenigsten Autos pro Einwohner aller Schweizer Städte. Auf 1.000 Einwohnende kommen in 334 Autos. Gegenüber 2010 ist eine Abnahme um 5 Prozent zu verzeichnen. Entsprechend fällt das Bild aus, wenn man schaut, wie die Einwohnenden ihren Arbeitsweg innerhalb der Stadt zurücklegen: 48 Prozent benutzen Tram oder Bus und 42 Prozent fahren mit dem Fahrrad oder gehen zu Fuß zur Arbeit. Nur 11 Prozent sind mit Auto oder Motorrad unterwegs. Basel ist deshalb eine erstaunlich ruhige und saubere Stadt. Dort kann man beobachten, wie sich die Lebensqualität einer Stadt anfühlt, in der nur wenige mit dem Auto unterwegs sind.

Da in Basel die meisten Tram-Linien durch die enge Innenstadt verkehren, beginnen sich in der Innenstadt die Straßenbahnen zu stauen. Am zentralen Platz fährt heute bereits jede Minute eine Tram. Seit Jahren werden Lösungen diskutiert, geeinigt hat man sich inzwischen auf einen Ausbau und das Herausnehmen von zwei Linien aus der Innenstadt. Ein Tunnel unter der Innenstadt ist vom Tisch, er hätte aus Kostengründen in einer Volksabstimmung wahrscheinlich keine Chance. Eine der Tramlinien fährt einfach über die Grenze nach Deutschland, eine andere nach Frankreich, Schengen sei Dank.

Unabhängig von einer Debatte um ein Ob und Wie gibt es auch in Deutschland gute Beispiele. In Leipzig werden Straßenbahnen ausgebaut und als Teil eines Systems gedacht. Derzeit wird getestet, wie mit einer App erreicht werden kann, dass man an einem Ort in irgendein ÖPNV-Verkehrsmittel einsteigt und irgendwo wieder aussteigt und Ende des Monats eine Rechnung über die tatsächlich gefahrenen Strecken bekommt. Keine Fahrkarten, keine Kleingeldsuche.
Oder Karlsruhe. Schon seit den 1980er Jahren steigt man dort am Marktplatz in eine Straßenbahn, welche am Hauptbahnhof auf das DB-Netz wechselt und dort als Regionalbahn zum Beispiel in den Schwarzwald fährt. Kein Umsteigen vom Dorf bis ins Stadtzentrum. Damit wurde die Straßenbahn zu einer Stadtbahn, welche inzwischen ein so hohes Fahrgastaufkommen hat, dass die Strecke in der Innenstadt 2021 unter die Erde gelegt wurde. Die Fahrgastzahlen stiegen von 102 Millionen 1995 auf über 167 Millionen 2019. Hier werden alle Vorteile einer Straßenbahn ausgereizt, Laufruhe dank moderner Wagen und Eisenbahn-Spurweite, Flächendeckung durch Wechsel auf das Bahnnetz, Zugbildung abhängig vom Passagieraufkommen. Die Zugbildung führt gegenüber dem Bus auch zu niedrigeren Lohnkosten.
Öffentlicher Nahverkehr wie in der Schweiz, Radfahren wie in Holland oder in Kopenhagen, Verkehrsberuhigung wie in Barcelona, sind Belege, dass in Städten nicht mehr auf saubere Luft und mehr Ruhe verzichtet werden muß.
Der Anteil von Bus und Straßenbahn kann auch in Deutschland 30 Prozent betragen (Berlin hat bereits 27 Prozent). Ähnlich hoch könnte der Anteil des Fahrradverkehrs sein (Münster 44 Prozent, Freiburg im Breisgau 34 Prozent). Eine PKW-Quote an den Wegen von unter 30 Prozent ist möglich (in Freiburg 21 Prozent; in Nürnberg 25 Prozent).

Bei jungen Menschen wird das Auto immer mehr zu einem möglichen Verkehrsmittel, nicht einem zwingenden. Es ist weniger als früher ein Statussymbol. Sie beherrschen per App die unterschiedliche Nutzung von ÖPNV, E-Rollern und Diensten wie Uber. Das Radfahren muss sicherere Wege haben, der ÖPNV muss noch attraktiver werden, dann hat auch die Straßenbahn mehr Zukunft. Städte, die darauf setzen, zeigen, dass es etwas bringt.



Dr. Heiko Behrendt schreibt regelmäßig im T&Emagazin. Dieser und weitere interessante Artikel zu Tesla, E-Mobilität und regenerativen Energien finden sich in der aktuellen 17. Ausgabe des T&Emagazin:

 

In der 17. Auflage geht es unter anderem um diese Themen:

Editorial – Handlungen sind erforderlich

Tesla Welt – News des Quartals

Tesla – Christoph Krachten: Tesla uneinholbar?

Tesla – S3XY CARS Community 2023?

Tesla – Dana Blagojevic: Hansjörg von Gemmings unendliche Fahrt

T&Etalk – Tesla Model S & X Plaid in Europa

T&Etalk – Tesla AI Day II

 

Die Herausgeber – Tesla Owners Club Helvetia (TOCH)

Die Herausgeber – Tesla Fahrer und Freunde (TFF) e.V.

Elektroauto Guru – Antonino Zeidler: Spezielle Reifen für E-Autos

Elektromobilität – Timo Schadt:Essener Motorshow

Elektromobilität – Christoph Reichelt: Elektrische Fahrzeugdesigns

Technophilosoph – Dr. Mario Herger: Robotaxi und Tesla FSD Beta

Innovator – Gespräch mit Nicole Krause zu Full Self Driving

Elektromobilität – Car Maniac E-Auto-Tests

Elektromobilität – Leseprobe Witziges Buch über‘s E-Auto

Elektromobilität – Martin Hund: Batterie-Rohstoffe

Klimaschutz Dr. Heiko Behrendt: Unsere Fahrweise 

Klimaschutz Dr. Heiko Behrendt: Realer Klimawandel

Klimaschutz – Dr. Heiko Behrendt: Kreislaufproduktion

T&Etalk – Jahresbilanz Energie- & Verkehrswende

Klimaschutz – Dr. Heiko Behrendt: Eine Radtour

Wirtschaft – Timo Schadt: Ein besonderes Bezahlterminal für‘s E-Autoladen

Wirtschaft – Dr. Heiko Behrendt: Straßenbahn

Reisebericht – Thomas Goldmann: Mit Model Y in die Pyrenäen

Fanboy – Gabor Reiter: Tesla Aktie – jetzt zugreifen?

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